Lesen ist ein äußerst komplexer Vorgang, dessen Teilleistungen entweder aufeinander aufbauen oder voneinander abhängen. Die von der Mehrheit der Kinder erreichten Lesefähigkeiten am Ende ihrer Grundschulzeit unterscheiden sich nicht wesentlich von denen durchschnittlicher erwachsener Leser. Allenfalls das semantische Lexikon erweitert sich und damit verknüpft verbessern sich die Lesegeschwindigkeit und das Verständnis bei schwierigeren Texten.
Jeder Leseprozess beinhaltet im Grunde die gleichen Abläufe. Der Leser nimmt eine Folge von Buchstaben optisch wahr und koppelt daran eine Lautfolge, der dann unmittelbar ein Sinn zugeordnet wird. Schnelligkeit und Sicherheit der lautlichen Umsetzung beim Erlesen von Wörtern hängen von verschiedenen Faktoren ab: der Sicherheit in den Graphem-Phonem-Korrespondenzen (Rekodierung) auch unter Berücksichtigung der Stellungs-, Gleit- und Übergangslaute, der Optimierung eines Lexikons möglicher Lautfolgen und deren Kopplung an Buchstabenfolgen und der Optimierung der Vergleichsprozesse zwischen möglichen Lautfolgen und Einträgen im semantischen Lexikon .
Auf der Textebene kommen dazu das Zwischenlagern der erlesenen Wörter im Kurzzeitgedächtnis, der Abgleich der Wortfolgen mit dem grammatischen, dem syntaktischen und dem semantischen Lexikon sowie die Rekonstruktion größerer Sinneinheiten und Lagerung derselben im Kurzzeitspeicher. Lesetests können nun verschiedene Anteile dieser Prozesse zu erfassen versuchen, wobei Messkriterien jeweils die Richtigkeit und das Tempo sein können. Je nach Messgegenstand können diese Größen noch ergänzt werden um Ausmaß der Sinnerfassung und beim Vorlesen die Leseflüssigkeit und inhaltsgerechte Betonung.
Lernstandserhebungen im Verlauf des Leselernprozesses der ersten Phase müssen sich erheblich von denen höherer Stufen unterscheiden. Das Tempo des Vorlesens von Wortlisten kann kein Kriterium in einer Phase sein, in der die Kinder die Zusammenhänge zwischen Schrift und Sprache erst mühsam entschlüsseln müssen. Tests wie Biglmaiers Vorleseproben für das 1. Schuljahr können nur erfolgreich bestanden werden, wenn ein Training von Lernwörtern stattgefunden hat. Eine derartig verfrühte Automatisierung von Leseabläufen birgt die große Gefahr des Aufbaus einer falschen Lesekonzeption, was zu erheblichen Lernhemmnissen führen kann. Die Kinder können den Eindruck gewinnen, Lesen bestehe im Auswendiglernen von Wörtern. Mit dieser Strategie landen sie in einer Sackgasse.
Lesetests für die erste Phase müssen zu entschlüsseln versuchen, inwieweit die Kinder die Einsicht in den Sprache-Schrift-Zusammenhang verstanden haben. Informelle Verfahren dazu können den Lehrerhandbüchern der Tobi-, Lollipop- und Jo-Jo-Fibel entnommen werden (Kapitel Diagnose und Förderunterricht). Siehe auch: www.wilfriedmetze.de (Aus der Praxis für die Praxis)
Der hier vorliegende Test setzt also den Abschluss des Leselehrgangs voraus, kann demnach sinnvoll frühestens am Ende des ersten Schuljahrs eingesetzt werden.
Der Stolperwörtertest umfasst einen größeren Bereich von Leseprozessen. Es werden jeweils Sätze vorgegeben, in die ein Wort eingebaut wurde, das nicht dorthin gehört und das als nicht zugehörend identifiziert werden muss.
Beispiel: Meine Mutter trinkt gern schwach Kaffee.
Um die Aufgabe lösen zu können, muss zumindest ein großer Teil der Wörter richtig erlesen werden. Darüber hinaus wird das Abrufen der erlesenen Einzelwörter aus dem Kurzzeitspeicher und die vergleichende Verarbeitung durch Aktivierung der grammatischen, syntaktischen und semantischen Lexika benötigt.
Der mögliche Einwand, dass damit unterschiedliche sprachliche Voraussetzungen, z.B. bei Kindern deutscher Muttersprache gegenüber Immigrantenkindern, stillschweigend als Teil der Lesefähigkeit gedeutet würden, ist berechtigt und dennoch verfehlt. Jeder Leseprozess, der über das bloße Rekodieren und in eingeschränktem Maße noch das Dekodieren hinausgeht, benötigt Kenntnisse der zu lesenden Sprache im Wortschatz, in der Grammatik und im Satzbau. Tests, die diese sprachlichen Anteile herauszulösen versuchten, würden wesentliche Bestandteile außer acht lassen. Derartige Tests könnten zum Beispiel das Vorlesen lateinischer Texte von Grundschulkindern abfordern. Sprachfähigkeit und -fertigkeit sind integraler und unabdingbarer Bestandteil des sinnerfassenden Lesens und müssen insofern mit überprüft werden.
Wie bei anderen Tests auch ist eine sachfremde Lösungsmethode nach dem puren Zufallsprinzip denkbar. Bei mindestens 5 Wörtern pro Satz am Testbeginn und einem Durchschnitt von 7 Wörtern ergäbe sich jedoch eine äußerst geringe Trefferwahrscheinlichkeit, die deutlich niedriger liegt als zum Beispiel in der WLLP mit dort 25 %.
Erfolg verspricht nur eine der Alltagssituation des stillen Lesens verwandte Strategie. Die erlesenen Einzelwörter werden in Verarbeitungsprozessen im Rückgriff auf die angesprochenen internen Lexika miteinander in Beziehung gebracht und auf Stimmigkeit überprüft. Beim Alltagslesen werden identische Abläufe verwendet, wenn es zu Verlesungen kommt oder wenn schwierige oder unbekannte Wörter auftauchen. Auch da wird in Abgleichprozessen nach Stimmigkeit geforscht. Ohne diese Klippen finden beim sinnerfassenden Lesen trotzdem solche Vergleiche statt, nur laufen sie ungleich schneller ab.
Stärker als beim leisen Lesen altersgemäßer Texte wird bei den Stolperwörter-Sätzen der Abgleich mit grammatischen und syntaktischen Strukturen gefordert. Die Berücksichtigung der verschiedenen internen Lexika kann unterschiedlich gewichtet sein. Manchmal wird vorrangig auf die Wortbedeutung zurückgegriffen werden müssen.
Der Stolperwörtertest erfasst also in hohem Maße wirklichkeitsnah umfassende Leseprozesse. Lediglich das Abspeichern des erfassten Inhalts und das Schlussfolgern aus dem Gelesenen wird durch das verwendete Verfahren nicht überprüft. Die extrem günstige Ökonomie des Einsatzes dürfte jedoch diesen Nachteil mehr als wettmachen.
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